Der Traum von einem neuen europäischen Humanismus
12. Mai 2016
Bei der Verleihung des Karlspreises 2016 hielt Papst Franziskus eine bemerkenswerte Dankesrede, die mit seinem Traum von einem neuen europäischen Humanismus schloss.
Karlspreis 2016 an Papst Franziskus
In Würdigung der herausragenden
Botschaften und Zeichen, die Papst Franziskus für Frieden und
Verständigung, für Barmherzigkeit, Toleranz, Solidarität und die
Bewahrung der Schöpfung setzt, würdigt ihm das Direktorium der Gesellschaft für die Verleihung des Internationalen Karlspreises zu Aachen im Jahr 2016 mit dem Karlsreis. In der Würdigung heißt es:
„Die Stunde ist gekommen, gemeinsam das Europa aufzubauen, das sich
nicht um die Wirtschaft dreht, sondern um die Heiligkeit der
menschlichen Person, der unveräußerlichen Werte; das Europa, das mutig
seine Vergangenheit umfasst und vertrauensvoll in die Zukunft blickt, um
in Fülle und voll Hoffnung seine Gegenwart zu leben. Es ist der Moment
gekommen, den Gedanken eines verängstigten und in sich selbst
verkrümmten Europas fallen zu lassen, um ein Europa zu erwecken und zu
fördern, das ein Protagonist ist und Träger von Wissenschaft, Kunst,
Musik, menschlichen Werten und auch Träger des Glaubens ist. Das Europa
[…], das auf den Menschen schaut, ihn verteidigt und schützt; das
Europa, das auf sicherem, festem Boden voranschreitet, ein kostbarer
Bezugspunkt für die gesamte Menschheit!“
Als Papst Franziskus im November 2014 mit diesen Worten seine
historische Rede vor dem Europäischen Parlament schloss, hatte er zuvor
sehr eindringlich an die Abgeordneten appelliert, die Würde des Menschen
und die Ideale der Gründerväter Europas in den Mittelpunkt ihres
Handelns zu rücken und als Gesetzgeber ihren Beitrag zu leisten, dass
das große Potenzial der europäischen Idee, um das weite Teile der Welt
die EU beneiden, nicht verspielt wird.
aus der Dankesrede von Papst Franziskus:
Mit dem Verstand und mit dem Herz, mit Hoffnung und ohne leere Nostalgien, als Sohn, der in der Mutter Europa seine Lebens- und Glaubenswurzeln hat, träume ich von einem neuen europäischen Humanismus: »Es bedarf eines ständigen Weges der Humanisierung«, und dazu braucht es »Gedächtnis, Mut und eine gesunde menschliche Zukunftsvision«[10]. Ich träume von einem jungen Europa, das fähig ist, noch Mutter zu sein: eine Mutter, die Leben hat, weil sie das Leben achtet und Hoffnung für das Leben bietet. Ich träume von einem Europa, das sich um das Kind kümmert, das dem Armen brüderlich beisteht und ebenso dem, der Aufnahme suchend kommt, weil er nichts mehr hat und um Hilfe bittet. Ich träume von einem Europa, das die Kranken und die alten Menschen anhört und ihnen Wertschätzung entgegenbringt, auf dass sie nicht zu unproduktiven Abfallsgegenständen herabgesetzt werden. Ich träume von einem Europa, in dem das Migrantsein kein Verbrechen ist, sondern vielmehr eine Einladung zu einem größeren Einsatz mit der Würde der ganzen menschlichen Person. Ich träume von einem Europa, wo die jungen Menschen die reine Luft der Ehrlichkeit atmen, wo sie die Schönheit der Kultur und eines einfachen Lebens lieben, die nicht von den endlosen Bedürfnissen des Konsumismus beschmutzt ist; wo das Heiraten und der Kinderwunsch eine Verantwortung wie eine große Freude sind und kein Problem darstellen, weil es an einer hinreichend stabilen Arbeit fehlt. Ich träume von einem Europa der Familien mit einer echt wirksamen Politik, die mehr in die Gesichter als auf die Zahlen blickt und mehr auf die Geburt von Kindern als auf die Vermehrung der Güter achtet. Ich träume von einem Europa, das die Rechte des Einzelnen fördert und schützt, ohne die Verpflichtungen gegenüber der Gemeinschaft außer Acht zu lassen. Ich träume von einem Europa, von dem man nicht sagen kann, dass sein Einsatz für die Menschenrechte an letzter Stelle seiner Visionen stand.